Sonderausstellung zur Erinnerung an das Textilgeschäft J.D. Cohn in Rotenburg

2. Juni bis 15. September 2024

J.D. Cohn, Ausschnitt aus einer Postkarte aus dem Jahr 1926

Ausschnitt aus einer Postkarte aus dem Jahr 1926

Die Vorfahren der jüdischen Familie Cohn waren seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Rotenburg ansässig und im Textilhandel tätig: zunächst in der Hinterstraße (heute Goethestraße), dann ab 1827 in der Poststraße (heute Große Straße) nahe dem Pferdemarkt. Der eigentliche Geschäftsgründer in der Großen Straße 32 war David Isaak Cohn ab 1861, aber schon 1877 übernahm sein Sohn Julius David Cohn und baute „J.D. Cohn“ zu einer führenden Kleidungs- und Stoffhandlung mit eigener Schneiderei aus. Die Scheune im Garten wurde 1896 erweitert und als Schneiderwerkstatt eingerichtet.

1922 übernahm Hermann Cohn das Wohn- und Geschäftshaus und die Schneiderei von seinem Vater, bekam die Generalvertretung der Firma Bleyle und wurde weit über die Grenzen Rotenburgs bekannt. In der Erinnerung von Erna Appel, der ältesten Cohn-Tochter, beschäftigte die Firma 12 Angestellte, darunter zwei Verkäufer, eine Verkäuferin, einen Buchhalter, einen Zuschneider mit zwei Schneidergesellen, eine Hutmacherin, einen Lehrling und drei Detailreisende (Vertreter).

Das florierende Textilhaus kam jedoch wie viele andere in Folge der Weltwirtschaftskrise in finanzielle Probleme, die zunächst aufgefangen werden konnten. Allerdings sorgte nur wenige Jahre später der Boykott jüdischer Geschäfte dafür, die Familie Cohn in den Ruin zu treiben, so dass im September 1934 der Konkurs angemeldet werden musste. Das Wohn- und Geschäftshaus wurde verpachtet, und 1937 kam es Zwangsversteigerung. Die Sparkasse wurde Eigentümerin und verkaufte es am 31. Januar 1938 an den Schneidermeister Heinrich Gerken, einem ehemaligen Angestellten der Cohns, der das Geschäft weiterführte.

Werbeschild Bleyle

Werbeschild Bleyle, © StadtPalais – Museum für Stuttgart (2024) www.stadtpalais-stuttgart.de

Die Quellenlage zu dem Textilgeschäft J.D. Cohn ist spärlich: Einige Briefe, Abrechnungen und Werbeanzeigen der Firma sowie Kleiderbügel sind erhalten geblieben. Sie werden in derSonderausstellung zusammen mit Exponaten der Firma Bleyle präsentiert, die dankenswerterweise vom StadtPalais – Museum für Stuttgart ausgeliehen werden konnten. Es handelt sich um Artikel, die damals zu dem Angebot des Geschäfts gehört haben könnten: ein kleiner Matrosenanzug und verschiedene Jacken und kurze Hosen für Knaben, Werbeschilder und ein Warenkatalog.

Das Geschäft und die Schneiderei wieder erlebbar zu machen, wurde zum Projekt von Gundula Volk-Lehmann, die anhand der überlieferten Beschreibungen von Hildegard Jacobsohn, der jüngsten Cohn-Tochter, eine Rekonstruktion des Textilladens als Puppenstube erarbeitet hat: Im Geschäft befindet sich links das Kontor. Die Buchhaltung, Bestellungen und Abrechnungen und auch ein Teil Alltagsleben fanden hier statt. Über dem Sofa sieht man das Hochzeitsfoto von Hermann und Hildegard Cohn von 1913. Rechts sieht man das Textilgeschäft. Dort findet man zusätzlich zu Kinder-, Damen- und Herrenbekleidung auch Hüte aus hauseigener Herstellung, Tuchwaren, Reisedecken, Tisch- und Bettware und vieles mehr, was hier zum Verkauf angeboten wurden.

Puppenstuben-Ausschnitt: Kontor, © Gundula Volk-Lehmann

Puppenstuben-Ausschnitt: Kontor, © Gundula Volk-Lehmann

Puppenstuben-Ausschnitt: Stoffverkauf, © Gundula Volk-Lehmann

Puppenstuben-Ausschnitt: Stoffverkauf, © Gundula Volk-Lehmann

Die Schneiderei, wie sie damals betrieben wurde, war in dem separaten Gebäude im Garten untergebracht. Die historische Scheune wurde im Nachbau des Fachwerks der Cohn-Scheune im Maßstab 1:10 im Juni 2023 im Rahmen einer Projektwoche von Schülerinnen und Schülern des Jahrgangs 9 mit ihren Lehrern Bruno Gärtner und Matthias Schröder und mit der Unterstützung von Brigitte Haase in der Werkstatt der IGS hergestellt. Gundula Volk-Lehmann hat dieses Modell als Schneiderwerkstatt eingerichtet. Sie zeigt das Maßnehmen und den Zuschnitt, das Nähen und die Anprobe, so dass nachvollzogen werden kann, wie damals maßgeschneiderte Herrenkleidung genäht wurde.

Viel Vergnügen beim Entdecken der Details!

Vortrag: Es geht um den Bestand unserer Demokratie

Der Journalist und Autor Hermann Vinke spricht in der Cohn Scheune in Rotenburg über Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland

Montag, 29. April 2024, 19 Uhr

Der Journalist und Autor Hermann Vinke spricht am Montag, 29. April 2024, um 19 Uhr in der Cohn Scheune über Rechtsextremismus und Antisemitismus. Vinke bereist seit etwa zwei Jahren mit einer Gruppe der bundesweiten Organisation Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. Orte und Städte in Ostmitteldeutschland, um Initiativen und Akteure, die sich dem Vormarsch der extremen Rechten in den Weg stellen, zu unterstützen.

Foto Hermann Vinke

Hermann Vinke, Foto: privat

Als politischer Journalist hat er die Nachkriegsentwicklung seit den 1960er Jahren wahrgenommen und miterlebt; er erklärt, die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik Deutschland stünde im Wahljahr 2024 vor ihrer bislang größten Herausforderung. Bei der Europawahl am 9. Juni und bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen im September entscheide sich, ob der Zulauf zur AfD weiter andauere und diese in weiten Teilen rechtsextreme Partei womöglich im Freistaat Thüringen oder in einem anderen Bundesland den Ministerpräsidenten stellen werde.

Hermann Vinke hat mehrere Bücher über den Widerstand im Dritten Reich geschrieben, darunter die Biografien „Das kurze Leben der Sophie Scholl“ und „Cato Bontjes van Beek – Ich habe nicht um mein Leben gebettelt“.

Objekte erzählen Geschichte(n): Warum Museumssammlungen aktuell bleiben (müssen)

Ein Vortrag von Dr. Manfred Wichmann
Am Sonntag, 7. April 2024, um 14:30 Uhr in der Cohn-Scheune

Museen gehören zur nationalen Kulturlandschaft und leisten einen wichtigen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft. Eine Besonderheit betrifft die zeithistorischen Museen, die sich mit der Lebensepoche der Zeitgenossen beschäftigen: sie müssen sich im Sinne einer „histoire totale“ mit allen Gesichtspunkten unserer modernen Welt beschäftigen, müssen also übergreifend alle Bereiche der Politik-, Sozial-, Wirtschafts-, Alltags-, Kulturgeschichte beleuchten. Hierdurch unterscheiden sich zeithistorische Museen von Kunst- oder Spezialmuseen.
Alle Dinge unserer Gegenwart kommen daher als museale „Relikte“ potenziell in Frage.

Magazinschrank mit diversen Sammlungsobjekten

Magazinschrank, Foto: Axel Thünker

Diverse Sammlungsobjekte wie Schreibmaschine und Wählscheiben-Telefone

Diverse Sammlungsobjekte, Foto: Axel Thünker

In einer globalisierten Welt ist die Fülle an Gegenständen unseres Alltagslebens unüberschaubar. Daher müssen Museen auswählen und bewerten, und diese Auswahl bildet das materielle Gedächtnis einer Nation. Im Vergleich zu klassischen historischen Quellen, den Texten und Schriften, erfordert materielles Kulturgut eine eigene Form der Bewahrung, Interpretation und Erforschung. Der Gegenwartsdimension kommt beim Aufbau einer zeithistorischen Sammlung eine besondere Bedeutung zu. In der Rückschau lässt sich deutlich erkennen, welche Themen und Ereignisse relevant waren und sind. Doch wie sammelt man die Gegenwart? Wie gehen Museen mit Globalisierung und Digitalisierung um? Diese Grundfragen beleuchtet Manfred Wichmann anhand aktueller Beispiele aus dem Alltag eines Sammlungsdirektors am Haus der Geschichte.

 

Vita Dr. Manfred Wichmann, Sammlungsdirektor Haus der Geschichte

Jahrgang 1971, Historiker und Kurator, Studium der Geschichte, Politik, Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Göttingen, Rom und Berlin. Magister-Abschluss im Jahr 2002 an der Humboldt-Universität Berlin, Promotion 2013 an der Freien Universität Berlin.

Dr. Manfred Wichmann

Dr. Manfred Wichmann, Foto: Axel Thünker

Ab 2002 als Archivar und Stellv. Archivleiter beim Jüdischen Museum Berlin vor allem verantwortlich für Familiensammlungen und Archivpädagogik sowie als Kurator für Ausstellungen zur deutsch-jüdischen Kultur- und Zeitgeschichte tätig. Seit 2009 zusätzlich Projektleiter für die Dauerausstellung „Jüdisches Leben in Rotenburg“ in der neu errichteten Kulturwerkstatt Cohn-Scheune und Herausgeber des Begleitbuches. Im Jahr 2012 übernimmt er als Sammlungsleiter bei der Stiftung Berliner Mauer den Aufbau der Abteilung und betreut sämtliche Originalbestände. Neben mehreren Publikationen zu Sammlungsobjekten entstehen daraus zahlreiche digitale Angebote und Ausstellungen zur deutschen Teilungsgeschichte. Seit Mai 2022 leitet er als Sammlungsdirektor der Stiftung Haus der Geschichte die größte zeithistorische Sammlung in Deutschland. Forschungsschwerpunkte sind die europäische Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Faschismus, deutsch-jüdisches Alltags- und Kulturleben sowie die deutsche Zeitgeschichte.

Aktuelle Publikation: „Flucht und Ankommen. 70 Objekte und ihre Geschichten aus dem Notaufnahmelager Marienfelde“, Berlin 2023