Objekte erzählen Geschichte(n): Warum Museumssammlungen aktuell bleiben (müssen)

Ein Vortrag von Dr. Manfred Wichmann
Am Sonntag, 7. April 2024, um 14:30 Uhr in der Cohn-Scheune

Museen gehören zur nationalen Kulturlandschaft und leisten einen wichtigen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft. Eine Besonderheit betrifft die zeithistorischen Museen, die sich mit der Lebensepoche der Zeitgenossen beschäftigen: sie müssen sich im Sinne einer „histoire totale“ mit allen Gesichtspunkten unserer modernen Welt beschäftigen, müssen also übergreifend alle Bereiche der Politik-, Sozial-, Wirtschafts-, Alltags-, Kulturgeschichte beleuchten. Hierdurch unterscheiden sich zeithistorische Museen von Kunst- oder Spezialmuseen.
Alle Dinge unserer Gegenwart kommen daher als museale „Relikte“ potenziell in Frage.

Magazinschrank mit diversen Sammlungsobjekten

Magazinschrank, Foto: Axel Thünker

Diverse Sammlungsobjekte wie Schreibmaschine und Wählscheiben-Telefone

Diverse Sammlungsobjekte, Foto: Axel Thünker

In einer globalisierten Welt ist die Fülle an Gegenständen unseres Alltagslebens unüberschaubar. Daher müssen Museen auswählen und bewerten, und diese Auswahl bildet das materielle Gedächtnis einer Nation. Im Vergleich zu klassischen historischen Quellen, den Texten und Schriften, erfordert materielles Kulturgut eine eigene Form der Bewahrung, Interpretation und Erforschung. Der Gegenwartsdimension kommt beim Aufbau einer zeithistorischen Sammlung eine besondere Bedeutung zu. In der Rückschau lässt sich deutlich erkennen, welche Themen und Ereignisse relevant waren und sind. Doch wie sammelt man die Gegenwart? Wie gehen Museen mit Globalisierung und Digitalisierung um? Diese Grundfragen beleuchtet Manfred Wichmann anhand aktueller Beispiele aus dem Alltag eines Sammlungsdirektors am Haus der Geschichte.

 

Vita Dr. Manfred Wichmann, Sammlungsdirektor Haus der Geschichte

Jahrgang 1971, Historiker und Kurator, Studium der Geschichte, Politik, Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Göttingen, Rom und Berlin. Magister-Abschluss im Jahr 2002 an der Humboldt-Universität Berlin, Promotion 2013 an der Freien Universität Berlin.

Dr. Manfred Wichmann

Dr. Manfred Wichmann, Foto: Axel Thünker

Ab 2002 als Archivar und Stellv. Archivleiter beim Jüdischen Museum Berlin vor allem verantwortlich für Familiensammlungen und Archivpädagogik sowie als Kurator für Ausstellungen zur deutsch-jüdischen Kultur- und Zeitgeschichte tätig. Seit 2009 zusätzlich Projektleiter für die Dauerausstellung „Jüdisches Leben in Rotenburg“ in der neu errichteten Kulturwerkstatt Cohn-Scheune und Herausgeber des Begleitbuches. Im Jahr 2012 übernimmt er als Sammlungsleiter bei der Stiftung Berliner Mauer den Aufbau der Abteilung und betreut sämtliche Originalbestände. Neben mehreren Publikationen zu Sammlungsobjekten entstehen daraus zahlreiche digitale Angebote und Ausstellungen zur deutschen Teilungsgeschichte. Seit Mai 2022 leitet er als Sammlungsdirektor der Stiftung Haus der Geschichte die größte zeithistorische Sammlung in Deutschland. Forschungsschwerpunkte sind die europäische Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Faschismus, deutsch-jüdisches Alltags- und Kulturleben sowie die deutsche Zeitgeschichte.

Aktuelle Publikation: „Flucht und Ankommen. 70 Objekte und ihre Geschichten aus dem Notaufnahmelager Marienfelde“, Berlin 2023

 

Wanderfahrten nach Worpswede in der Schulzeit des Rotenburgers Siegmund Cohn (1878-1959) und neue Erkenntnisse über sein Leben

Ein Vortrag von Inge Hansen-Schaberg und Wolfgang Dörfler am 6. März 2024, 19:00 Uhr

Der älteste Bruder von Hermann Cohn, dem letzten Inhaber des Rotenburger Textilgeschäfts, hat einen bemerkenswerten Lebenslauf aufzuweisen. Siegmund Cohn, 1878 geboren, war 1898 wahrscheinlich der erste jüdische Abiturient aus Rotenburg. Er studierte in Hannover, wurde Diplom-Ingenieur, lebte und arbeitete ab 1905 in Berlin und trat in die jüdische Gemeinde ein.

Abiturjahrgang des Gymnasiums zu Bremen 1898

Abiturjahrgang des Gymnasiums zu Bremen 1898

Die Biographie Siegmund Cohns konnte anhand der Unterlagen in den von ihm beantragten Entschädigungsverfahren recherchiert werden, ebenso der gewaltsame Abbruch seines bürgerlichen Lebens in der NS-Zeit und das knappe Überleben dank seiner nichtjüdischen Ehefrau. Als er 1959 starb, war er in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin das Mitglied mit der längsten Mitgliedsdauer.

Chronik des Naturwissenschaftlich Technischen Vereins, Jüdisches Museum Berlin

Chronik des Naturwissenschaftlich Technischen Vereins, Jüdisches Museum Berlin

 

Der direkte Anlass, biographische Informationen über Siegmund Cohn zu gewinnen, ist einem Glücksfall zu verdanken. In einem Nachlass wurden zwei handgeschriebene Chroniken des von Schülern des (Alten) Gymnasiums zu Bremen gegründeten Naturwissenschaftlich Technischen Vereins gefunden und in den Zusammenhang mit der Cohn-Scheune gebracht. Der Verfasser eines großen Teils der Texte war Siegmund Cohn. Von ihm stammen auch die farbigen Zeichnungen, die ein besonderes Talent dokumentieren.

Inge Hansen Schaberg und Wolfgang Dörfler beleuchten in ihrem Vortrag verschiedene Aspekte des Lebens dieses Mannes und der in den Büchern niedergelegten Vereinsaktivitäten. Dabei kommen Themen wie der Antisemitismus in der Zeit vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die Freizeitaktivitäten im Umland Bremens mit dem Beginn des Worpswede-Tourismus, die Entrechtung, Verfolgung, Beraubung durch Zwangsabgaben und schließlich die Zwangsarbeit in der NS-Zeit sowie die Probleme in der Nachkriegszeit zur Sprache.

Vortrag: Die Sottrumer Familie Moses in der Zeit des Nationalsozialismus

Am Donnerstag, 8. Februar 2024 um 19:00 Uhr in der Cohn-Scheune

Referentin: Claudia Koppert

Am 23. Februar 2024 werden in Sottrum an der Großen Straße fünf Stolpersteine verlegt – als Zeichen der Erinnerung für Mitglieder der Familie Moses. Diese Initiative und Begleitveranstaltungen dazu tragen unterstützt von der Gemeinde drei Sottrumer Institutionen: das Gymnasium, die St.-Georg-Stiftung und der Heimatverein e. V.

https://www.kreiszeitung.de/lokales/rotenburg/sottrum-ort58094/juedische-opfer-des-ns-staats-die-sottrumer-familie-moses-92820191.html

Im Vortrag zeichnet Claudia Koppert anhand von Dokumenten, Fotos und regionalen Berichten die Schicksale von Rudolf Moses und seinem Cousin Albert Moses nach. Beide waren bis in die 1930er Jahre in der Großen Straße als Schlachter tätig. Sie waren Urenkel von Hahn Seligmann und seiner Frau Mike, einem jüdischen Ehepaar aus Franken, das 1814 nach Sottrum zog. Die Familie lebte in zwei Zweigen geschätzt und anerkannt im Ort. Dem setzte die NS-Verfolgung ein Ende. Albert Moses gelang mit seiner Frau Ida Moses, geborene Schad, und den beiden Töchtern Ilse und Inge Anfang 1939 noch die Emigration in die USA. Rudolf Moses wurde im November 1941 ins Ghetto Minsk deportiert und dort Opfer des Holocaust.

Albert Moses mit seiner Frau Ida Moses (l.) und den Zwillingen Ilse und Inge, Mutter Lilli Moses (M.) und Alberts Schwester Else mit dem Schwager Hans Buchholz (r.) 1934 Fotografie Nachlass Auguste Siebert-Buchholz, Privatbesitz Hans-Richard Buthmann. Abgedruckt in Claudia Koppert, „Ländliches jüdisches Leben von der Ansiedlung bis zur Vertreibung: Fünf Generationen der Familie Seligmann und Moses in Sottrum“´. In: Inge Hansen-Schaberg (Hrsg.): Weitererzählen. Die Cohn-Scheune – Jüdisches Museum und Kulturwerkstatt. Berlin, Leipzig 2001, S. 82-136, hier S. 109.

 

Claudia Koppert, Foto: Tilman Koppert

Claudia Koppert ist freie Autorin und Lektorin in Stapel, Beiratsmitglied im Förderverein Cohn-Scheune. 2021 erschien ihr Aufsatz: „Ländliches jüdisches Leben von der Ansiedlung bis zur Vertreibung: Fünf Generationen der Familie Seligmann und Moses in Sottrum“ im Buch „Weitererzählen“, herausgegeben von Inge Hansen-Schaberg, Leipzig/Berlin 2021.